Der „Ring“ als Comic: Der Traum aller Wagner-Traditionalisten - WELT (2024)

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Als die Gier, die Schmach und die Schande am Ende des zweiten Aufzugs der „Götterdämmerung“ den Tod des Helden beschließen, habe ich es nicht mehr ausgehalten. Welche Interpretation es sein sollte, war ganz klar: die meisterhafte und ganz klassische von Karajan und den Berliner Philharmonikern passte (aus meiner Sammlung) am besten zu den bunten Bildern des Racheschwurs, die die amerikanische Graphic-Novel-Legende P. Craig Russell gefunden hat. Wagner ohne Musik, das funktioniert eben nicht über die ganze Strecke.

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Die Libretti der vier „Ring“-Opern sind ein Meisterwerk – die große Verhandlung über Recht und Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Schicksal, ein Schockbericht über Determinismus. Ohne logische Lücken verästelt sich das Epos über viele Epochen, das archaische Personal bleibt jederzeit in seinen Motiven klar und in den Handlungen erschreckend zwingend. Wagner schuf für den „Ring“ eine eigene starke Sprache. Die Tetralogie ist – auch – hohe Literatur.

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Was geschrieben ist, braucht stets Bilder. Sie entstehen entweder allein im Kopf des Lesers oder – in dramatischen Texten wie dem „Ring“ – auf der Bühne. Eine interessante Zwischenform ist die Graphic Novel (der erwachsene Bruder des Comics), wo die Handlung zwar so platt ist, dass sie zwischen zwei Buchdeckel passt, aber durch die naturgemäß starke Bildsprache eine eigene Tiefe erreichen kann. Alan Moores „Watchmen“ ist ein perfektes Beispiel dafür oder „Maus“ von Art Spiegelmann. Weil das Auge gleichzeitig lesen und sehen muss, ist dieses Genre übrigens auch deutlich anspruchsvoller als sein Ruf.

P. Craig Russell hat den „Ring des Nibelungen“ als Comic erzählt. 1344 küchenwaagengemessene Gramm wiegt das Ding, 448 Seiten stark. Im „cross cult“-Verlag ist es nun erstmals ins Deutsche übersetzt erschienen, das amerikanische Original ist bereits mehr als zwanzig Jahre alt.

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Kann das funktionieren? Also das magnum opus des Musikdramas ganz ohne Musik? Ich habe die Pointe aus Leserköderungsgründen ja schon gesetzt: Es geht, aber nicht so gut wie mit. Während des Lesenschauens (das ja zügiger geht als das Sehenhören) summt man im Kopf den „Ring“ in Leitmotiv-Fetzen mit. Aber versuchen wir das mal auszuschalten. Funktioniert die Geschichte als Superheldenstory?

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Erstaunlich gut. Die Tiefe der Handlung steht überhaupt nicht im Widerspruch zu den schon arg klischeehaften Bildern. Im Gegenteil, sie fängt sie gut auf. Klar: Hier wird alles aufgefahren, was man sich unter Wagner vorstellt, wenn man noch nie in der Oper war. Die Wälsungen sind auf eine idealtypische Germanenart blond, blauäugig, muskelbepackt, wie es sich ein deutscher Zeichner nie getraut hätte.

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Loge flitzt als gertenschlanke humanoide Flamme durch die Panels. Wotan sieht aus wie Anthony Hopkins Odin in der Marvel-Kinoreihe um „Thor“ (die freilich viele Jahre später gedreht wurde): geflügelter Helm, Rauschebart, goldenes Muskelband am Arm, als Wanderer in „Siegfried“ dann mit vorgeschriebenem Schlapphut. Und die Nibelungen sind gollumhafte Gnome, grau und grausig, kriechend und krabbelnd. Bösartige Zwerge.

Mit Hakennasen? Nein. Russell hat offenbar nicht die antisemitischen Merkmale in den Wagner-Beschreibungen der Figuren gelesen, die viele Gegner dem Komponisten vorwerfen.

„Chapter One: The Rope of Fate“

Wer also das Buch nur flüchtig durchblättert, könnte auch meinen, im „Herrn der Ringe“ gelandet zu sein. Und das ist auch kalkuliert. „P. Craig Russells wunderbare Erzählung des Ring-Zyklus gelingt es, die treueste und inspirierendste Aufarbeitung der Oper in Comicform sowie gleichermaßen die ultimative High-Fantasy-Saga zu sein“, wird im Klappentext aus einer Kritik zitiert.

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Noch einmal besonders deutlich wird es in den Titelseiten der einzelnen Akte, in denen es brachial zugeht wie in frühen Marvel- und DC-Comics. Die Nornenerzählung in der „Götterdämmerung“ wird da zu: „Chapter One: The Rope of Fate“, der „Siegfried“-Schlussakt zu: „Laughing at Death“. Schepper!

Wenn man mit dieser Art Spaß leben kann – und ich kann es – dann kommt man weit genug, um die Stärke der Adaption zu sehen: Sie erzählt die sehr komplexe Handlung mit all ihren Nebensträngen, Vor- und Rückblicken extrem stringent, hier wurde nichts weggelassen oder zu stark vereinfacht.

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Das Genre bietet dafür gutes Handwerkszeug: Waltrautes Bericht an Brünnhilde über Wotans Verzweiflung, wenn nicht Wahnsinn, ist in schwarz-weiß gezeichnet und bekommt daher eine eigene Dimension. Gerade im auf der Bühne oft zerfahren inszenierten und beim Libretto-Lesen höchste Konzentration erfordernden Tarnhelm-Tausch zwischen Gunther und Siegfried hilft die Bildsprache beim Verständnis des Textes.

Wer sich also nicht so gut mit dem „Ring“ auskennt, für den ist dieses Buch schon durch seine Nachvollziehbarkeit der Handlung eine Empfehlung. Auch, weil der Autor eine eigene Sprachwelt entwickelt hat, also nicht den wagnerschen Stabreim verwendet, sondern eine eigene Tonalitäts-Variante nutzt.

Die orientiert sich eng an der englischen Übersetzungen. In der deutschen Ausgabe wird Wagners Sprache so durch einen vierfachen Fleischwolf gedreht: Vom Original in die englische Obertitelversion, in die adaptierte Comic-Sprache mit ihren typischen Formen und dann alles wieder zurück ins Deutsche. Das ist interessant. Und kein Stück peinlich.

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Russell bleibt in seinen Panels so eng an den originalen Handlungsanweisungen, dass man seine Bildwelt fast für Bühnenskizzen halten könnte. In der von Wagner sehr detailliert beschriebenen ersten „Rheingold“-Szene, wird Alberichs ausführlich fiebriges Herumgehopse von Fels zu Fels Bild für Bild nacherzählt – so werkgetreu wird das selbst in den Kitschopernhäusern wie der Met nicht mehr inszeniert.

Wobei das schon wieder eine sehr feine Ironie innehat: Der Comic ist in seinem Fantasy-Realismus praktisch der bildgewordene feuchte Traum derjenigen Traditionalisten, die einen Pappmaché-Drachen einer klugen Interpretation jederzeit vorziehen würde. Hier ist Fafner Lindwurm, hier darf er’s sein. Aber natürlich rümpfen diese Regietheater-Gegner vor Russells Genre an sich schon die hohen Nasen. Spieglein, Spieglein…

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Michael Kennedy, Musikkritiker des Londoner „Telegraph“, geht in seinem Vorwort sogar so weit, zu schreiben, dass man in Russells Adaption den Zyklus so sehen würde, „wie ihn Wagner vor seinem inneren Auge gesehen haben mag (und wie begeistert er mit Sicherheit vom Walkürenritt gewesen wäre)“. Nun, Wagners Kopf bietet vielen seiner Fans eine voll möblierte Heimat. Ich denke, es wäre ihm dann doch irgendwie zu bunt geworden.

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So wuchtet man sich durchaus mit Gewinn durch das Werk, die beiden Dimensionen Inhalt und Bildgewalt sind gut bis sehr gut bedient – aber natürlich kommt diese Art von Darstellung irgendwann an ihre Grenzen. Und da sind wir wieder ganz am Anfang (des Textes) und am Ende (der Tetralogie). Wenn sich Gunther, Hagen und Brünnhilde zur Zwangsgemeinschaft der Drachentötertöter verbünden, ist das eine der gewaltigsten Szenen in Wagners Werk. Man erinnert sich an große Inszenierungen, und man kann einfach nicht mehr ohne die Musik. Das Schaffen des Meisters ist ein Gesamtkunstwerk.

Wie brillant die Opern auch konzertant aufgeführt werden, wie verführerisch verspielt Westbams Wagnerprojekt demnächst bei den Osterfestspielen zu werden verspricht, ob als drolliger Eventspielfilm oder eben als so sorg- wie etwas einfältige Adaption im Comic: Erst, wer die Erkenntnis erlangt, dass der mannigfaltige Genius des Meisters in der gleichberechtigten Kombination aus Musik, Erzählung und Darstellung so viel grandioser ist als die Summe ihrer schon beachtlichen Teile, ist ganz bei Wagner angekommen. Oh, wie sehne ich mich nach Bayreuth!

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